Aktives Lernen / Lehren - digital unterstüzt

Kernaussage: Wissen soll man verstehen, Fähigkeiten muss man aktiv üben.

 

Wie soll unser Bildungssystem auf die aktuellen Herausforderungen reagieren?

"Angesichts komplexer gesellschaftlicher Herausforderungen ... kommt der Hochschulbildung eine zentrale Rolle bei der Gestaltung des technologischen, ökologischen und gesellschaftlichen Wandels zu. ... Um auch zukünftig den gestiegenen Anforderungen in vollem Maße gerecht zu werden, ist ein Qualitätssprung im gesamten Hochschulsystem erforderlich." (www.wissenschaftsrat.de/download/2022/9699-22.pdf?__blob=publicationFile&v=13, S. 7)

 

Dies gilt genauso für die Schulbildung und das Schulsystem. Ich will mich hier aber erst einmal auf die Hochschulbildung konzentrieren. Welche Ziele setzt der Wissenschaftsrat, das wichtigste wissenschaftspolitische Beratungsgremium in Deutschand für die Hochschulbildung?

 

"Das Erreichen dieser Zielsetzungen – vielseitige, kreative und verantwortungsvolle Persönlichkeiten, die reflektiert auf neue Herausforderungen reagieren und ideenreich Innovationen anstoßen können – ist und bleibt nach Ansicht des Wissenschaftsrats ein zentrales Qualitätsmerkmal der Hochschulbildung." (www.wissenschaftsrat.de/download/2022/9699-22.pdf?__blob=publicationFile&v=13, S. 17)

 

Das vom Wissenschaftsrat gesetzte Ziel läuft darauf hinaus, dass die Hochschulen Menschen ausbilden sollen, die schwierige Probleme lösen können:

  • Verantwortungvolle Persönlichkeiten" sorgen dafür, dass es im Zusammenhang mit einer Sache oder Person zu keinen Problemen kommt bzw. wenn Probleme auftauchen, dass diese gelöst werden.
  • Auch die "komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen" (im ersten Zitat) bedeuten, dass es größere Probleme gibt, die von "vielseitigen und kreativen Persönlichkeiten" gelöst werden müssen.
  • Um "Innovationen ideenreich anstoßen zu können", benötigt ein man ein gutes Fach- und Allgemeinwissen, sowie Problemlösungswissen" (siehe auf Learn-Study-Work "Wie kreativ werden").

 

Nur auf der Grundlage einer Analyse kann bei einem Problem ein Ziel gesetzt und nach Methoden gesucht werden, mit denen dieses Ziel erreicht weden kann:

  • Wer ein Problem lösen will, muss es erst einmal analysieren.
  • Wer einen Prozess oder eine Methode optimieren will, muss ihn bzw. sie analysieren, um die Schwachstellen herauszufinden.
  • Wer forschen will, muss sein Forschungsgebiet analysieren, um eine lohnende Forschungsfrage zu finden. 

Die wichtigst Fähigkeit, die Studierende im Laufe ihres Studiums erlernen müssen, ist also das Analysieren und das sich anschließende Schlussfolgern. Sinnvollerweise sollte das Analysieren zusammen mit dem Aneignen von Fachwissen gelernt werden (siehe auf Learn-Study-Work "Wie studieren").

 

Wie können Studierende das Analysieren aktiv lernen?

Das Analysieren muss man lernen wie den Eiskunstlauf: Die Trainerin erklärt den Bewegungsablauf und macht ihn so weit wie möglich vor und dann muss man täglich üben, wobei die Trainerin korrigiert. So kann man eine Figur nach der anderen lernen. Eine gute Trainerin "versteht" ihr Handwerk. Sie weiß, dass eine große Bewegung aus vielen kleinen Bewegungen zusammengesetzt ist. Sie weiß auch, welche Muskeln gestärkt werden müssen, damit die Bewegungen optimal ausgeführt werden können. Sie erkennt selbst die kleinsten Fehler in der Ausführung. Sie versteht die physikalischen Gesetze, die für die Bewegungen gelten. Sie denkt sich für das Training spezielle Übungen aus, die ihren Schützling voranbringen. Und sie diskutiert mit ihr oder ihm, was noch weiter verbessert werden könnte. Die Trainerin und ihr Schützling sind ein Team und tun bezüglich des Eiskunstlaufes alles gemeinsam.

 

"Um die Bedeutung einer Sache, eines Ereignisses oder einer Situation zu erfassen, muss man sie in ihren Beziehungen zu anderen Dingen sehen: erkennen wie sie funktioniert und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, was sie verursacht und wie sie genutzt werden kann." (Dewey, J. (1933). How We Think: restatement of the relation of reflective thinking to the educative process. Boston, D.C. Heath and Co., S. 137)

 

Genauso ist es beim Analysieren. Es kann in der Vorlesung "Wissenschaftliches Arbeiten" erklärt werden. Dann aber wird es in jedem Fach beim Erklären des jeweiligen Fachwissen angewendet, an Beispielen aus dem Fach vorgeführt und anschließend selbstständig geübt.

 

Der Nobelpreisträger der Physik Carl Wiemann wendet das aktive Lehren und Lernen an, indem er digitale Abstimmungsgeräte benutzt. Der Ablauf ist so (siehe das englische Video https://mediatheque.lindau-nobel.org/recordings/38480/dont-lecture-me, 17.11.22, ab 2:08):

  1. Advance Reading (die Lernenden müssen vorab etwas lesen)
  2. Start with a question (der Lehrende stellt eine Frage)
  3. Vote (die Lernenden übermitteln digital eine Antwort))
  4. Discuss with peers (die Lernenden diskutieren miteinander ihre Antwort)
  5. Revote (die Lernenden bleiben bei ihrer Antwort oder ändern sie)
  6. Show result (der Lehrende zeigt das Abstimmungsergebnis)
  7. Discussion (dann gibt es eine Diskussion)

Zu der Wirksamkeit seines Vorgehens hat er ein Experiment durchgeführt (Video ab 3:54): Eine große Gruppe von Studierenden wurde geteilt. Die eine Teilgruppe erhielt eine "normale" Vorlesung, die andere Teilgruppe wurde nach seiner Methode unterrichtet. Eine Woche später gab es einen Überraschungstest. Obwohl beiden Teilgruppen der gleiche Stoff vermittelt worden war, waren die Testergebnisse seiner Gruppe viel besser.

 

Carl Wiemann sagt in dem Video: "Angenommen ich möchte Ihnen die grundlegenden Ideen zu der Elektrizität vermitteln. In der klassischen Vorlesung würden sie dasitzen und mir zuhören. Ich würde Ihnen die ganzen Formeln und technischen Begriffe vortragen ... Das wäre die klassische Vorlesung." (obiges Video 0:36 - 0:58)

 

Er beschreibt eine schlechte Vorlesung. Bei einer guten Vorlesung würde der Lehrende erklären, wie das Wissen entstanden ist, welche Regeln gelten, welche Ursachen die Regeln haben, in welchen Situationen man sie anwenden kann und wie sie genutzt werden können (entsprechend dem obigen Zitat zu dem Verstehen einer Sache).

 

Er sagt selber, dass er von den Studierenden verlangt, dass sie sich mit Hilfe eines Textes auf die Vorlesung vorbereiten. Den Inhalt des Textes könnte er auch zu Beginn der Vorlesung vortragen. Dann könnten die Studierenden sofort Fragen zu dem Inhalt stellen. Ob Text oder mündlicher Vortrag, der erste Schritt seiner Lehrmethode entspricht einer klassischen Vorlesung.

 

Meiner Meinung nach hängt es von dem Thema ab, welche der beiden Vorgehensweisen besser ist. Bei einem schwierigen Thema wäre der mündliche Vortrag besser, bei einem nicht so schwierigen Thema reicht es, wenn die Studierenden einen Text lesen.

 

Beispiel: Die Studierenden sollen lernen, was Wissenschaft ist. Ihnen wird gesagt: "Lesen Sie als Vorbereitung den Text auf Wikipedia durch." Dort steht:

 

"Das Wort Wissenschaft ... bezeichnet die Gesamtheit des menschlichen Wissens, der Erkenntnisse und der Erfahrungen einer Zeitepoche, welches systematisch erweitert, gesammelt, aufbewahrt, gelehrt und tradiert wird.[2]" (https://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaft, 17.11.22)

 

Diese Definition wird auf Wikipedia nicht erklärt. Ich habe selber sehr lange gebraucht, bis ich für mich verstanden hatte, dass dies keine gute Definition von Wissenschaft ist (siehe auf Learn-Stud-Work "Was ist Wissenschaft"). So viel Zeit haben die Studierenden nicht.

 

Auch bezüglich der weiteren Schritte von Carl Wiemann gibt es eine Alternative, die bei Themen angebracht scheint, die ein längeres Nachdenken erfordern:

 

Mein Vorgehen während des Corona-Lock-Downs war, im Rahmen einer Online-Vorlesung den Studierenden ca. 30 Minuten „Input“ zu geben und sie dann, jede für sich,  einen Arbeitsauftrag bearbeiten zu lassen, dessen Ergebnis sie auf unsere digitale Lernplattform für alle Teilnehmerinnen sichtbar hochladen mussten. Zu den einzelnen Ergebnissen gab es von mir ggf. eine Rückmeldung. Die Arbeitsergebnisse wurden nicht bewertet, sondern es wurde am Ende der Vorlesung eine digitale Klausur geschrieben.

 

Welche Möglichkeiten gibt es für aktives Lehren bzw. aktives Lernen?

Eine Vorlesung kann in zwei gegensätzlichen Extremen gehalten werden: Das eine Extrem ist die klassische oder Frontalvorlesung, das andere das selbständige Lernen, bei dem die Studierenden nur mit dem Lehrenden zusammenkommen, wenn sie ihre Ergebnisse präsentieren und diskutieren (der Flipped oder Inverted Classroom, das problem-based Lernen, ...).  Beide Extreme haben Vor- und Nachteile.

 

Mit einer Frontalvorlesung kann (wird aber oft nicht) Wissen übersichtlich dargestellt und sehr gut erklärt werden. Während des Vortrags oder im Anschluss können Vertiefungsfragen diskutiert werden. Der Nachteil dabei ist, dass die Studierenden nicht gezwungen sind, konzentriert zuzuhören und sich nicht alle an einer anschließenden Diskussion beteiligen.

 

Beim Flipped oder Inverted Classroom haben die Studierenden die Möglichkeit längere Zeit über das neue Wissen nachzudenken und so besteht die Chance, dass es zu einer intensiven Diskussion kommt. Das selbstständige Aneignen von Wissen dauert allerdings länger. Wenn die Studierenden sich auf die intensive Diskussion schlecht vorbereiten, dann erfüllt diese nicht ihren Zweck.

 

Zwischen den beiden Extremen gibt es ein Kontinuum von Übergangslösungen. Mit meinem Vorgehen in der Pandemie wollte ich die Vorteile kombinieren. Während meines Online-Vortrages habe ich versucht, das Wesentliche zu dem Thema herauszuarbeiten und verschiedene Perspektiven aufzuzeigen. Zusätzlich habe ich auf der Plattform der Hochschule vertiefende Materialien zur Verfügung gestellt.

 

Die Arbeitsaufträge bestanden nicht darin, Fragen zu beantworten oder Lückentext auszufüllen, sondern ich wollte die Studierenden dazu „zwingen“, selber „aktiv“ zu analysieren und Erfahrungen zu machen. Die Bachelorstudierenden mussten z. B. Zusammenfassungen schreiben oder unterschiedliche Definitionen von einem Begriff zusammentragen. Die Masterstudierenden sollten wissenschaftliche Artikel beurteilen oder vertiefende Fragen diskutieren. Dadurch, dass die Ergebnisse für alle Teilnehmerinnen sichtbar hochgeladen mussten, standen die Studierenden unter einem gewissen Druck, es gab zwar keine Noten, aber sie wollten vor ihren Kommilitoninnen nicht schlecht dastehen. Außerdem konnten sie voneinander lernen, indem sie die anderen Posts lasen. Sie waren auch davon angetan, dass sie mir nicht 90 Minuten lang online zuhören mussten.