Kernaussage: Eine lehrreiche Aussage (Moral) erschließt sich durch eine Interpretation. Nur wer versteht, wie Literatur entsteht, kann sie "richtig" interpretieren.
Dieser Text hat vier Teile:
1. Grundsätzliche Fragen
2. Wie entstehen literarische Texte? (genauer gesagt poetische Texte)
3. Was muss bei einer Interpretation untersucht werden?
4. Wie wird eine Interpretation geschrieben?
Definition: Literatur sind alle veröffentlichten Schriften.
Die Literatur lässt sich nach verschiedenen Kriterien einteilen. Inhaltlich erfolgt die Einteilung in fiktionale Literatur, Sachbücher und andere Schriften. Eine Fiktion ist etwas Erdachtes, was nur in der Vorstellung (des Dichters) existiert. Die Werke der fiktionalen Literatur werden auch als "literarische Texte" bezeichnet. Die literarischen Texte werden unterteilt in poetische Literatur und Unterhaltungsliteratur (siehe auf Learn-Study-Work "Was ist Literatur?").
Definition: Eine Interpretation ist das subjektive Verstehen von etwas.
Eine subjektives Verstehen setzt voraus, dass etwas auf unterschiedliche Weise verstanden werden kann. Die Aussage 2 + 2 = 4 kann nicht interpretiert werden, weil sie so definiert wurde und deshalb nur auf eine Weise verstanden werden kann. Poetische Texte hingegen können unterschiedlich verstanden werden, weshalb es die "richtige" Interpretation nicht gibt.
"Interpretation, die sich ernst nimmt, sagt: '... ich sehe das so und so.' Sie macht eine Aussage über die eigene Stellung zum Text und untermauert gegebenenfalls durch überprüfbare Argumente deren Gültigkeit." (Schutte, J. (2005). Einführung in die Literaturinterpretation, Stuttgart, Weimar: Verlag J. B. Metzler, S. 16)
Ein Sachtext sollte so verständlich geschrieben sein, dass es für die Zielleser nur eine Interpretationsmöglichkeit gibt. Unterhaltungsliteratur will hauptsächlich Spannung und Mitgefühl erzeugen und ist deshalb meistens auch gut zu verstehen. Die poetische Literatur aber will eine "Moral" (eine lehrreiche Aussage) vermitteln und diese erschließt sich nur durch eine Interpretation.
"Literarische [poetische] Texte versteht man meist nicht auf Anhieb. Sie haben eine komplexe Struktur und fordern die analytische Leistung der Leser/innen in besonderer Weise heraus. Die Leser/innen müssen Aussagen in mehreren – zunächst verborgenen – Schichten des Textes entdecken und sie zueinander in Beziehung setzen. Literarische Texte sind zudem oft mit sogenannten Leerstellen versehen: Einiges wird nicht ausgesprochen, sodass die Leser/innen die Bedeutung des Textes erst aktiv herstellen müssen." (Biermann, H. & 6 mehr (1999). Texte, Themen und Strukturen – Allgemeine Ausgabe. Deutschbuch für die Oberstufe / Schülerbuch, Berlin: Cornelsen, S. 460.)
Ein literarisch-poetischer Text lässt also Raum für Interpretationen. Die Leser sollen darüber nachdenken, ob das was dargestellt wird, wirklich so geschehen könnte und warum es so geschehen könnte. Sie sollen sich fragen: "Was will uns der Dichter sagen?" und aus dem Text eine allgemeine Lehre ziehen. Es gibt nicht die "richtige" Interpretation, aber wenn eine Interpretation zu vielen inhaltlichen und stilistischen Aussagen eines Textes passt, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie mit der Absicht des Dichters übereinstimmt.
Beispiel: "Das Bettelweib von Locarno" von Heinrich von Kleist
"An der Textoberfläche erscheint Das Bettelweib von Locarno als recht harmlose Gespenstergeschichte ... Stattdessen lässt Kleist den Erzähler sich in zahlreiche Widersprüche verwickeln, die allerdings von den Lesern – meist unwillkürlich – aufgelöst werden ... Entsprechend den vielen Widersinnigkeiten des Textes gibt es zahlreiche, sich teilweise diametral widersprechende Interpretationsmöglichkeiten." (https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Bettelweib_von_Locarno, 06.03.22)
"Unter einer Textanalyse/Interpretation versteht man die schriftliche Darstellung eines Textverständnisses. Dieses lässt sich als Ergebnis der Frage
auffassen: Was sagt uns der Text wie und warum auf diese besondere Weise
über ein bestimmtes Thema?" (https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/themen/sprachbildung/Lesecurriculum/Leseprozesse/Texterschliessung/Texterschliessung.pdf, 04.03.22, S. 47)
Wie im Zitat ausgedrückt wird, ist die Textanalyse das Gleiche wie eine Textinterpretation. Wenn ich bei einer Untersuchung betonen will, dass sie möglichst objektiv durchgeführt wurde, dann bezeichne ich sie als Analyse. Wenn ich darauf hinweisen will, dass aus der Untersuchung auch andere Schlussfolgerungen gezogen werden können (s. o.), dann nenne ich sie Interpretation.
Eine andere Auffassung sagt, dass die Textanalyse nur ein Teil der Textinterpretation ist (wenn eine Lehrerin das so sieht, dann sollte man es so akzeptieren). Im allgemeinen Sprachgebrauch gehört zu einer Analyse aber immer eine Schlussfolgerung. Deshalb gehört für mich zu einer Textanalyse auch die Deutung des Textes.
Das Wort Text leitet sich ab von dem lateinischen Wort Textus, was Gewebe bedeutet. Ein Text ist ein "Gewebe" von Aussagen. Wenn die Aussagen gut zueinander passen, dann bekommt der Text einen Sinn. Um den Sinn eines Textes zu verstehen, muss man ihn analysieren, d. h. seine Teile (die einzelnen Aussagen) untersuchen und dann eine Schlussfolgerungen über das "Ganze" (die Hauptaussage des Textes) ziehen.
Einen der größten Fehler, den man beim Analysieren machen kann, ist vorschnell eine Schlussfolgerung zu ziehen, weil diese dann oft falsch ist (nur wenn man keine Zeit hat, muss man dieses Risiko eingehen). Bei einer vorschnellen Schlussfolgerungen berücksichtigt man nur die Hinweise, die für diese sprechen und übersieht andere mögliche Schlussfolgerungen.
"2) Hauptteil (= Erarbeitung)
■ Formulierung einer Deutungshypothese, ausgehend vom eigenen ersten
Verständnis der Textvorlage ...
3) Schluss (= Ergebnis der Erarbeitung)
Die Analyse und Deutung schließt mit einem Fazit ab, d. h. einer Schlussfolgerung, die aus den Beobachtungen zum Text gezogen wird und mit der Ausgangshypothese verglichen wird. Hat sie sich
bestätigt? Ist sie zu ergänzen, einzuschränken?" (https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/themen/sprachbildung/Lesecurriculum/Leseprozesse/Texterschliessung/Texterschliessung.pdf, 04.03.22, S. 48/49)
"Ausgehend vom ersten Verständnis" gleich eine Deutungshypothese zu formulieren, ist keine gute Idee. Wer gut analysieren möchte, der sollte sich zuerst überlegen, welche alternativen Deutungshypothesen möglich sind. Mit diesen Alternativen in Sinn geht man den Text genau durch und achtet besonders auf die Ausdrucksmittel (s. u.), denn der Dichter benutzt diese, um einen Hinweis auf die richtige Deutung seines Werkes zu geben. Diese Vorgehensweise kostet zwar erst einmal Zeit, zahlt sich aber später aus, wenn die ausgewählte Deutungshypothese am Text begründet werden muss.
Beispiel: Die Kurzgeschichte "Im Glaskasten" von Jagoda Marinić handelt von einer alten Dame, die in dem Kino einer kleinen Stadt in einem Glaskasten sitzt und Tickets verkauft. Frage: Geht es in der Kurzgeschichte um den Glaskasten, das Kino, die alte Dame oder um das Leben in einer kleinen Stadt? Im ersten Teil der Kurzgeschichte werden die Worte "kleine Stadt" viermal vewendet. Dies ist ein Hinweis darauf, dass es um das Leben in einer kleinen Stadt geht (in einer Großstadt würde die alte Dame niemanden auffallen). Die Bestimmung, worum es in der Kurzgeschichte geht, ist eine wichtige Vorarbeit für das Aufstellen einer Deutungshypothese.
Grundsätzlich kann man bei einem Text den Inhalt von dem Stil unterscheiden: Der Inhalt gibt an, was man schreibt und der Stil, wie man es schreibt.
Der Stil ist die "Art und Weise, etwas mündlich oder schriftlich auszudrücken, zu formulieren" (www.duden.de/rechtschreibung/Stil, 28.02.22)
Diese Definition von Stil, im Sinne von "wie man etwas tut", verwenden wir auch im Alltag. Ist der Stil ein Unterpunkt der Form, wie es das folgende Zitat sagt?
"Form bezeichnet in der Literaturwissenschaft die äußere Gestaltung oder Erscheinung eines sprachlichen Kunstwerks. ... Die Form setzt sich aus vielen, verschiedenen sprachlichen Elementen wie Stil, Rhythmus, Reim, Metaphorik, Struktur oder Perspektive, also der Gesamtheit der sprachlichen Mittel zusammen. ...
In der Literatur bezeichnet Stil die besondere Art und Weise des Schreibens. ... Wo Menschen sind, ist auch Stil. Denn sobald sich Menschen über ihre Sprache, ihre Kleidung, Wohnungseinrichtung, über Musik- und Kunst ausdrücken, haben sie einen Stil." (www.rossipotti.de/inhalt/literaturlexikon/sachbegriffe.html, 01.11.22)
Ich sehe die Form als einen Unterpunkt des Stils, weil es im Alltag gebräuchlich ist, vom Stil zu sprechen, wenn Menschen sich ausdrücken. Wenn ich einen Inhalt vermitteln will, dann überlege ich, in welchem Stil (wie) ich das machen will: Welche Form soll ich wählen (z. B. ein Brief oder ein Gedicht) und wie soll ich diese Form ausfüllen?
Mit der Form eines Textes ist (meiner Meinung nach) die Gattung/Untergattung (Textsorte) gemeint, zu der der Text gehört (Gattung = Gruppe von Objekten, die in wesentlichen Merkmalen übereinstimmen, s. u.).
"Die Gliederung der Weltliteratur erfolgt ... formal in Gattungen, inhaltlich nach Motivgruppen, Stoffen usw." (Gero von Wilpert. Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 1969 (5. Aufl.) Kröner Verlag 2001)
Ein guter "Stil entsteht durch Klarheit, Einfachheit, Aufrichtigkeit und Ordnung …" (William Strunk, jr. (1959). The Elements of Style)
Wenn ein literarisch-poetischer Text durch eine Interpretation klar und einfach erscheint, dann wird es sich wahrscheinlich um die "richtige" Interpretation des Textes handeln. Weil aber jede Interpretation subjektiv ist, kann es trotzdem noch andere "richtige" Interpretationen geben. Wer "richtig" interpretieren will, muss verstehen, wie ein poetischer Text entsteht.
Angenommen eine Autorin möchte mit einem poetischen Text eine lehrreiche Aussage machen. Weil die Leser über ihre Aussagen nachdenken sollen, verschlüsselt sie diese. Das heißt, der Inhalt ihres Werkes ist für die Leser nur in Kombination mit den verwendeten Ausdrucksmitteln (s. u.) zu verstehen. Was muss die Autorin tun, um das Werk fertigzustellen?
1. Idee und Wissensvertiefung
Die Autorin wählt für ihre Idee (die Hauptaussage = Moral) eine Gattung aus (z. B. ein Gedicht, eine Kurzgeschichte oder ein Theaterstück). Damit sie in ihrem Werk alle Aspekte (alle Bedeutungen) dieser Aussage überzeugend darstellen kann, muss sie zu dem Thema ein umfangreiches Wissen besitzen und dieses eventuell noch weiter vertiefen.
Der Nobelpreisträger von 1978, Isaac B. Singer (1902 – 1991) sagt in seiner Autobiografie „Verloren in Amerika“ (S. 100):
"damals wußte ich schon, daß ein Schriftsteller nur über Menschen und Dinge schreiben kann, die er gut kennt." (www.br.de/telekolleg/faecher/deutsch/literatur/12-literatur-nachgefragt-100.html, 07.03.22)
Auf der Grundlage ihres vertieften Wissens entscheidet sie, welche Aspekte ihrer Hauptaussage sie besonders hervorheben und welche sie weglassen will. Dann kann sie beginnen, den Inhalt (die Bestandteile/Elemente) ihres Werkes zu planen.
2. Welche Figuren oder Sachen (Gegenstände) sollen vorkommen?
Ein Sachtext würde versuchen, eine Moral möglichst verständlich zu erklären. Ein poetischer Text zeigt den Lesern Situationen oder Ereignisse, die sie betroffen machen sollen.
"Gute literarische [poetische] Texte sind Texte, die über das rein Persönliche hinausgehen und etwas Grundlegendes über unsere menschliche Existenz, unsere elementaren existentiellen Erfahrungen, wie Einsamkeit, Fremdheit, Rollenzwang, Scheitern, Aufstieg und Fall, Unausweichlichkeit von Schuld, Rätselhaftigkeit des Lebens usw., aussagen. Sie wollen nicht nur unterhalten, sondern den Leser auch emotional betroffen machen ..." (https://schreibszene.ch/images/PDFs/Andreotti_Die_Struktur_der_modernen_Literatur_Leseprobe_Kapitel_12.pdf, 07.03.22, S. 392)
Ein Roman z. B. will Spannung erzeugen:
"Ich aber war von der Tatsache überzeugt, daß Spannung das Wesentliche ist im Leben wie in der Kunst. ... Was notwendig war, das waren verzwickte Situationen und echte Dilemmas und Krisen. Ein Roman muß seinen Leser fesseln. ... (Singer S.150)." (www.br.de/telekolleg/faecher/deutsch/literatur/12-literatur-nachgefragt-100.html, 07.03.22)
Situationen oder Ereignissen drehen sich um Sachen oder Figuren. Deshalb muss die Autorin entscheiden, welche sie für ihr Werk vewenden will und zu welcher Zeit und zu welchem Ort sie gehören sollen (s. u.).
3. Was soll die Handlung sein? Welche Motive sollen vorkommen?
Was ist ein Motiv? Ein Text besteht meist aus mehreren Aussagen. Beziehen sich eine oder mehrere Aussagen auf ein kleines Unterthema, welches in der Literatur oder in dem Text wiederholt auftritt, dann handelt es sich um ein Motiv des Textes.
Das Motiv ... in der Literatur ist ... ein erzählerischer Baustein, „eine kleinere stoffliche Einheit, die ... ein inhaltliches, situationsmäßiges Element darstellt“[1]. (https://de.wikipedia.org/wiki/Motiv_(Literatur), 06.03.22)
Ein Motiv ist ein wichtiger Baustein, aber ein poetischer Text besteht nicht nur aus Motiven. Was sind die Bausteine eines poetischen Textes? Ein Film und ein Theaterstück sind aus Szenen aufgebaut:
"Mit Film bezeichnet man das gesamte Werk. Jeder Film ist ähnlich wie ein Theaterstück in einzelne Akte eingeteilt. ... Ein Akt lässt sich in einzelne Szenen teilen. Eine Szene ist der Teil eines Aktes, der zur gleichen Zeit an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Sinnzusammenhang spielt. Eine Szene kann man in verschiedene Einstellungen ... aufteilen. Die Einstellung ist die kleinste Einheit eines Films." (https://cms.sachsen.schule/trickfilm/theorie/aufbau-eines-films-filmteile, 06.03.22)
"Um ein Theaterstück sinnvoll proben zu können, wird es traditionell in Einheiten unterteilt, während denen sich die Anzahl der Darsteller auf der Bühne nicht ändert. Wenn jemand auftritt oder abgeht, beginnt eine neue Szene. ... Von der Einteilung in Szenen unterscheidet sich die Einteilung in Akte bzw. Aufzüge, die sich aus der Handlungslogik ergibt ... " (https://de.wikipedia.org/wiki/Szene_(Theater), 06.03.22)
Ein Akt bei einem Film oder Theaterstück entspricht einem Kapitel bei einer Erzählung bzw. einer Strophe bei einem Gedicht, einer Szene entspricht die Beschreibung einer Situation oder einem Ergeignis und eine Einstellung entspricht einer Aussage. Eine Situation ist ein System von Elementen zu einem bestimmten Zeitpunkt (siehe auf Learn-Study-Work "Wie Situationen = Systeme analysieren?").
Die Bausteine eines epischen oder lyrischen Textes sind also die (lebendigen) Beschreibungen von Situationen und Ereignissen. Mit ihnen kann eine Handlung aufgebaut werden.
Die "Handlung ist die Folge von Ereignissen in einem literarischen Werk." (www.rossipotti.de/inhalt/literaturlexikon/sachbegriffe/handlung.html, 06.03.22)
"Ein Ereignis ... ist im allgemeinen Sinn eine Situation, die durch Dynamik oder Veränderung gekennzeichnet ist. Das Gegenteil eines Ereignisses ist ein „Zustand“: eine Situation ohne Veränderung oder Dynamik. Eine klassische Definition ist, dass ein Ereignis darin besteht, dass ein Übergang von einem Zustand in einen anderen Zustand stattfindet.[2] (https://de.wikipedia.org/wiki/Ereignis, 06.03.22)
Eine Geschichte z. B. kann nicht nur aus Ereignissen bestehen, sie muss auch Situationen ohne Veränderungen beschreiben. Diese Beschreibungen sind wichtig, damit der Leser das kommende Ereignis versteht: An einem bestimmten Ort unterhalten sich zwei Personen (= Situation ohne Veränderung). Dann geraten die Personen in Streit und sie schlagen sich (= Ereignis). Im Anschluss wird die Situation nach der Schlägerei beschrieben. Die Beschreibungen von Situationen und Ereignissen sind also die Bausteine einer Handlung.
Beispiel: Goethes Gedicht "Lust und Qual" aus dem Jahre 1820
"Knabe saß ich, Fischerknabe,
Auf dem schwarzen Fels im Meer,
Und bereitend falsche Gabe,
Sang ich, lauschend rings umher −
Angel schwebte lockend nieder,
Gleich ein Fischlein streift und schnappt −
Schadenfrohe Schelmenlieder,
Und das Fischlein war ertappt.
...
Im 2. Vers der ersten Strophe steht der bestimmte Artikel ... : Der Fischerknabe sitzt nicht auf einem Fels im Meer, sondern auf dem schwarzen Fels im Meer. ... Wozu der schwarze Fels im Meer? ...
Hier nun offenbart sich der poetologische Plan, wie Gerigk (2001) das nennt, der Bogen ist gespannt von der Kindheit, in der man auf dem schwarzen Fels aus dem Meer aufgetaucht ist, bis zu dem Augenblick, zu dem man sich bereitmachen muss, in das ewige Meer hinabzusteigen ... − Lust und Qual des Lebens eben ...
Wir verstehen auch den schwarzen Fels im Meer, ... schwarz als „Repräsentant der Finsternis" ... gegen die der unbekümmerte Knabe steht." (www.pedocs.de/volltexte/2020/21181/pdf/Didaktik_Deutsch_2013_34_Ossner_Erklaeren_und_Zeigen.pdf,
06.03.22, S. 42-44)
Die erste Strophe des Gedichts beschreibt eine Situation: Das lyrische Ich sitzt als Fischerknabe singend auf einem schwarzem Felsen am Meer und angelt. Der Knabe tut zwar etwas, aber das
sind keine richtigen Ereignisse (der Übergang zwischen Situation und Ereignis ist fließend). Dann kommt es zu einem Ereignis: ein Fisch beißt an.
4. An welchem Ort und zu welcher Zeit soll die Handlung spielen?
Der Ort muss zu dem Inhalt (zu dem Milieu und der Atmosphäre, die durch den Inhalt beschrieben werden) und zu dem Motiv des Textes passen. Die Autorin muss sich entscheiden, ob sie ihr Werk in einer bestimmter Zeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) zurechnen will ober ob es eher zeitlos sein soll, wie z. B. ein Gedicht über die Schönheit eines Gartens.
5. Welche Struktur soll der Text haben?
Die Teile eines Ganzen sind in einer bestimmten Art und Weise angeordnet. Die Art der Anordnung ist die Struktur.
Ein Text ist ein "Gewebe" von Aussagen. Meist werden die Aussagen in der Form eines Satzes gemacht. Damit ein Text gut zu verstehen ist, müssen die Sätze in einer logischen Reihenfolge stehen, damit sich ein Sinn ergibt (Fachbegriff: der Text muss kohärent sein). Sätze, die zusammengehören, können zu einem Sinnabschnitt zusammngefasst werden. Ein Text ist also aus Sinnabschnitten aufgebaut. Die Anordnung der Sinnabschnitte ergibt die Struktur des Textes.
Beispiel: Die Sonne scheint. Mein Hund heißt Hasso. Diese beiden Sätze stehen in keinem sinnvollen Zusammenhang. Dieser ergibt erst, wenn es heißt: Heute scheint die Sonne. Deshalb gehe ich mit meinem Hund Hasso spazieren.
Auch bei einem poetischen Text muss die Autorin den Inhalt logisch sinnvoll planen, so dass sich überzeugende Sinnabschnitte ergeben. Wenn z. B. eine Figur Teil des Textes ist, dann muss diese auch auf die eine oder andere Weise vorgestellt werden.
6. Welchen Titel soll das Werk haben?
Die Autorin könnte sich schon Gedanken über den Titel ihres Werkes machen. Zwischen Titel und Werk soll ein Zusammenhang bestehen.
Das folgende Bild ist eine Weiterentwicklung der Folie 2 dieser Präsentation auf dem Landesbildungsserver BW: www.schule-bw.de/faecher-und-schularten/sprachen-und-literatur/deutsch/unterrichtseinheiten/interpretation/Textinterpretation.pptx, 01.11.22. Damit das Bild nicht zu voll wird, habe ich die Untersuchung des Kontext (der Autorin, der Epoche und der Rezeption) weggelassen.
Die Autorin benutzt die Ausdrucksmittel der Form und der Sprache dazu, um Gefühle bzw. Betroffenheit zu erzeugen und um bestimmte Aussagen zu betonen oder zu veranschaulichen.
Inhalt
Die ersten vier Unterpunkte wurden schon oben besprochen. Die Unterpunkte Leerstellen, Mehrdeutigkeiten und Erwartungsbrüche werden sehr gut auf der Seite des Bayrischen Rundfunks erklärt, siehe www.br.de/alphalernen/faecher/deutsch/3-besonderheiten-literarische-texte-literatur-102.html, 03.11.22.
Form
"Auch heute noch gelten epische, lyrische und dramatische Texte als die drei Grundformen der Literatur, d. h. als die drei literarischen Großgattungen – im Wissen, dass es vielfältige Unterformen, Ausdifferenzierungen und Mischformen gibt." (www.br.de/alphalernen/faecher/deutsch/4-literarische-gattungen-literatur-102.html, 03.11.22)
Eine Untergattung der Lyrik (der Gedichtsform) wäre z.B. das Liebesgedicht. Zu den Untergattungen der epischen Kurzform siehe www.br.de/telekolleg/faecher/deutsch/literatur/04-literatur-fakten-100.html, 04.11.22
"Da der Gattungsbegriff auf verschiedenen Ebenen verwendet wird und daher ungenau ist und keine Differenzierung für viele literarische Traditionen der Neuzeit bietet, wird auch oft von Genus oder Genos, Genre, Textart und Textsorte gesprochen." (https://de.wikipedia.org/wiki/Gattung_(Literatur), 03.11.22)
Sprache
Die Autorin muss für ihren Inhalt die Gestaltung der Sprache so auswählen, dass Zur Untersuchnug der Sprache gehören die folgenden Punkte:
1. Die Vortragsweise
Bei einem Gedicht gibt es ein lyrisches Ich, dass den Inhalt vorträgt.
"Das lyrische Ich kommt nur in der Lyrik vor. In dramatischen und epischen, also erzählenden Texten, wird die sprechende Instanz als Erzähler bezeichnet. ... Fragen, die Sie sich bei der Analyse eines lyrischen Ichs stellen können, sind die nach transportierten Stimmungen, Welt- und Wertvorstellungen oder auch Fragen nach der Intuition des lyrischen Ich, also ob es beispielsweise manipulativ wirkt oder ob ironische oder sarkastische Aussagen tätigt."(https://praxistipps.focus.de/lyrisches-ich-der-begriff-einfach-erklaert_117386, 11.03.22)
Ein epischer Text kann aus unterschiedlichen Perspektive erzählt werden, aus der Sicht einer Figur (Ich sagte ...) oder Sicht eines Erzählers (ER/Sie sagte ...), der über die Handlung berichtet (siehe Bayrischer Rundfunkt www.br.de/telekolleg/faecher/deutsch/literatur/03-literatur-Nachgefragt-100.html, 04.11.22).
"Ein episches Werk hat immer einen Erzähler, der uns die Geschichte präsentiert. Das ist eine fiktive Person, die entweder als ICH-Erzähler auftritt oder aus der ER/SIE-Position in dritter Person erzählt. In der ER/SIE-Perspektive kann der Erzähler neutral sein, aber auch aus der Sicht einer Person erzählen. ... Der Erzähler gewährt uns Einblick in die Gedanken, Gefühle und Geschehnisse rund um die handelnden Personen" (https://praxistipps.focus.de/merkmale-der-epik-eine-uebersicht_112179, 11.03.22)
Bei einem Drama ist kein Erzähler notwendig, denn der Zuschauer erfährt den Inhalt aus den Dialogen zwischen den Figuren und deren Handlungen.
2. Die Struktur
Damit ein Sachtext gut zu verstehen ist, wird der Inhalt in einer logischen Reihenfolge und bei längeren Texten geordnet in Kapitel und Unterkapitel geschrieben, damit der Leser die Übersicht behält. Bei einem literarischen Text kann davon abgewichen werden, wenn die Dichterin eine bestimmte Wirkung erzielen will.
Durch die gewählte Form (Gattung/Textsorte) ist manchmal eine bestimmte Struktur vorgegeben. So sind z. B. Gedichte oft in Strophen und Verse gegliedert. Es muss also untersucht werden, ob ein Text von der gängigen Struktur abweicht, welchen Grund die mögliche Abweichung hat.
3. Die Wortwahl und die Syntax
Die Sprache verwendet Wörter, um nach den Regeln der Grammatik Sätze zu bilden. Werden die Worte und Sätze richtig verwendet, dann kann sich der Leser den Inhalt gut vorstellen, fühlt etwas und kommt so ins Nachdenken. Er oder sie erkennt den Sinn, der vermittelt werden soll.
"Die Syntax fragt nach den Regeln zur korrekten Kombination von Wörtern im Satz. Die Semantik fragt nach der Zuordnung von Wortmarke zu realem Objekt [nach der Bedeutung/dem Sinn von
Wörtern, Sätzen oder Texten]." (Beyer. R. & Gerlach, R. (2018). Sprache und Denken. Lehrbuch Basiswissen Psychologie.
Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 9)
Bei der Wortwahl, sind die Autoren an die Vorgaben gebunden, die sich aus der Wahl der Gattung/Textsorte, der Epoche und des Milieus ergeben. Auf solch einen Zusammenhang sollte eine Interpretation hinweisen. Bei einem Gedicht müssen sich die Autoren an das gewählte Betonungsschema (Metrum) und die Reimform halten.
Eine Handlung besteht aus der Beschreibung von Situationen und Ereignissen (s. o.). Mit jeder Beschreibung verfolgen die Autoren ein bestimmtes Ziel, welches man sich klarmachen muss. Um dieses Ziel optimal zu erreichen, müssen sie die richtigen Wörter und die richtige Syntax wählen.
"Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist derselbe Unterschied wie zwischen dem Blitz und dem Glühwürmchen." (Mark Twain).
Beispiel: In der ersten Strophe seines Gedichts "Lust und Qual" (s. o.) verfolgt Goethe zwei Ziele: Er will den Fischerknaben vorstellen und zeigen, dass man im Leben in Fallen tappen kann. Der Fischerknabe ist unbekümmert, hat aber eine dunkle Seite, was durch die Worte "schwarzer Fels" und "schadenfrohe Schelmenlieder" ausgedrückt wird (s. u.). Im Leben kann man auf "lockende" "falsche Gaben" hereinfallen, die schwer zu erkennen sind, weil sie "schweben". Der Leser kann sich die Szene, wie der Knabe am Meer sitzt und einen Fisch fängt, gut vorstellen und wird dazu angeregt, über die genannten besonderen Worte nachzudenken.
Leitwörter/Wortfamilien sind Wörter (auch unterschiedliche Wörter mit der gleichen Bedeutung), die mehrmals in einem Text vorkommen und so einen Hinweis geben, was in dem Text betont werden soll (siehe oben das Beispiel "Im Glaskasten").
4. Bilder
"Ein besonderes sprachliches Mittel ist das Sprechen in Bildern ... und der Gebrauch sprachlicher Bilder, so genannter Metaphern. Beide finden in literarischen Texten oft Anwendung, um Gefühle, Gedanken oder Assoziationen zu veranschaulichen und Mehrdeutigkeit zu erzeugen." (www.br.de/alphalernen/faecher/deutsch/3-besonderheiten-literarische-texte-literatur-102.html, 04.11.22)
Auf dieser Webseite des Bayrischen Rundfunks ist die Verwendung sprachlicher Bilder sehr gut erklärt.
5. Rhetorische Mittel
Die rhetorischen Mittel werden auch als sprachliche oder stilistische Mittel bezeichnet. Sie werden eingesetzt, um bestimmte Wirkungen zu erzeugen. Hier eine grobe Einteilung (ein rhetorisches Mittel kann mehrere Wirkungen haben):
Die Definitionen der rhetorischen Mittel mit Beispielen können im Internet leicht gefunden werden.
Beispiel: Goethes Gedicht "Lust und Qual" oben
Der schwarze Felsen ist ein rhetorisches Mittel, er kann eine Metapher/Symbol sein für den Tod am Ende des Lebens (s. u.).
Paraphrasieren ist das Wiederholen einer Aussage mit eigenen Worten.
"Wenn es um das Verstehen eines Textes geht, ist eine sprachliche Handlung grundsätzlicher als alle anderen − das ist das Paraphrasieren." (www.pedocs.de/volltexte/2020/21181/pdf/Didaktik_Deutsch_2013_34_Ossner_Erklaeren_und_Zeigen.pdf, 06.03.22, S. 40)
Der Autor dieses Zitates paraphrasiert das Gedicht "Lust und Qual" von Goethe (s. o.) sehr nah am Originaltext:
"Das lyrische Ich erzählt aus seiner Kindheit. Es sitzt fischend auf dem schwarzen Fels im Meer und ... singt, während es den Köder (falsche Gabe) zubereitet und zudem ringsumher lauscht, schadenfrohe Schelmenlieder, wobei ... die Angel lockend niederschwebt und gleich ein Fischlein, das umherstreift, nach dem Angelköder schnappt und schließlich anbeißt (Fischlein war ertappt)." (www.pedocs.de/volltexte/2020/21181/pdf/Didaktik_Deutsch_2013_34_Ossner_Erklaeren_und_Zeigen.pdf, 06.03.22, S. 41)
Um stilistische Auffälligkeiten zu entdecken, sollte man aber die Situation mit ganz normalen Worten beschreiben: Ein Fischerknabe sitzt auf einem schwarzem Felsen am Meer und angelt, wobei er Lieder singt. Ein Fisch beißt an.
Jetzt vergleiche ich meine Paraphrase mit dem Original. Mir fallen mehrere Besonderheiten auf: Es ist normal, dass ein "unbekümmerter" Knabe Schelmenlieder singt, aber warum singt er
schadenfrohe Schelmenlieder? In der Strophe schadet er dem Fischlein und freut sich darüber. Der Knabe hat also keinen besonders guten Charakter.
Die nächste Frage ist: Warum singt der Knabe und lauscht dabei? Das erinnert an Vögel, die singen und lauschen, ob das andere Geschlecht antwortet. Der Knabe stellt schon in seiner frühen
Jugend den Mädchen nach. Dazu passt, dass das Wort Knabe im ersten Vers durch eine Wiederholung betont wird.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Fischerknabe im Meer angelt. Die entscheidende Frage für die Deutung des Gedichts ist: Warum tut er das auf "dem schwarzen
Fels"? Auf diese Frage gibt es zwei mögliche Antworten: Der Fels ist bei allen Kindern schwarz, weil sie später einmal sterben müssen oder er ist nur bei diesem Knaben schwarz, weil er einen
"schwarzen" Charakter hat. Auf die erste Antwort weist hin, dass Goethe den bestimmten Artikel "auf dem Fels" verwendet, anstatt den unbestimmten Artikel "auf einem Fels" zu benutzen. Dies kann
seinen Grund aber auch im verwendeten Metrum haben:
"Man kann fragen, warum der Text mit Knabe ... beginnt, warum im zweiten Vers der bestimmte Artikel steht etc. Die Antworten darauf können z. B. sein, dass die gewählte Romanzenstrophe ... den dahinschreitenden Trochäus verlangt, der nicht gegeben wäre, würde er mit der normalen Satzstellung Ich saß als Knabe… beginnen – dann hätten wir einen Jambus. Nicht anders beim bestimmten Artikel. Würde dieser durch den unbestimmten ausgetauscht, würde die Zeile metrisch nicht mehr passen, da der verlangte unbestimmte Artikel zweisilbig wäre." (www.pedocs.de/volltexte/2020/21181/pdf/Didaktik_Deutsch_2013_34_Ossner_Erklaeren_und_Zeigen.pdf, 06.03.22, S. 46)
Um das Gedicht "richtig" interpretieren zu können, muss man auch Hintergrundinformationen berücksichtigen, wie z. B. das Leben Goethes und seine anderen Werke. Ich interpretieren die erste
Strophe subjektiv so, dass der schwarze Fels den "schwarzen" Charakter des Jungen symbolisiert (auch Goethes Dr. Faust hat eine "schwarze" Seite, weil er einen Pakt mit dem Teufel eingeht). Eine
andere Möglichkeit ist, den schwarzen Felsen als Tod am Ende des Lebens zu interpretieren (siehe das Zitat oben).
Eine Interpretation/Textanalyse sollte, wie jeder Text, übersichtlich und logische geordnet sein. Es gilt die Grundordnung Einleitung - Hauptteil - Schluss.
Die Einleitung
Die Einleitung soll den Leser darüber informieren, welches Werk interpretiert werden soll und ihm die Entscheidung ermöglichen, ob er die Interpretation ganz lesen will. Deshalb nennt die Einleitung ...
Der Hauptteil
Der Hauptteil soll zeigen, welche Deutungshypothese die "richtige" ist. Zuerst wird die Struktur beschrieben (sie wird auch als "äußere Form" bezeichnet):
Dann muss der Zusammenhang zwischen dem Inhalt des Werkes und der verwendeten Sprache untersucht werden. Dabei muss abgeschätzt werden wie detailliert dies erfolgen soll. Bei längeren Werken muss man sich auf die wichtigen Stellen beschränken.
Das Werk wird erst einmal im Geiste in Sinnabschnitte unterteilt (eventuell werden von diesen einige zusammengefasst). Dann kann linear (von vorne nach hinten) oder aspektorientiert vorgegangen werden. Die inhaltlichen und sprachlichen Besonderheiten werden untersucht und es wird es wird versucht zu verstehen, warum die Autorin oder der Autor sie für das Werk verwendet hat. Anschließend wird beurteilt, ob sie die Deutungshypothese bestätigen bzw. welche Deutungshypothese sie bestätigen.
Der Schluss
Die wichtigsten Erkenntnisse des Hauptteils werden zusammengefasst, so dass mit ihnen die Entscheidung für eine Deutungshypothese begründet werden kann. Abschließend erfolgt eine persönliche Stellungnahme zu dem Werk (Z. B. wie sehr hat es gefallen und wie wichtig ist es?).
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हिंदी भाषा में: ""आदर क्या है ?", "अनादर का जवाब कैसे दें ?"
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